FUER-„Early Career Researchers”-Kolloquium

FUER-„Early Career Researchers”-Kolloquium

Organisatoren
Arbeitsbereich für Didaktik der Geschichte, Universität Greifswald
PLZ
17475
Ort
Greifswald
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.03.2023 - 03.03.2023
Von
Phillip Pauli / Vincenz Borgelt / Wolfgang Hasberg, Historisches Institut, Universität zu Köln

Im Osten Mecklenburg-Vorpommerns, in der Universität am Greifswalder Bodden, tagte in diesem Jahr das FUER-Kolloquium, bei dem erneut eine beträchtliche Anzahl an Qualifikationsarbeiten vorgestellt werden konnte, die sich mit der Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins (FUER Geschichtsbewusstsein) befassen. Acht Vortragende präsentierten ihre Forschungsvorhaben, die dem jeweils unterschiedlichen Status der Bearbeitung entsprachen. Während die einen geplante Forschungsvorhaben zur Diskussion stellten, waren andere in der Lage, bereits erste Ergebnisse vorzutragen, wieder andere wollten das Design ihrer Studien debattieren oder das Erhebungsinstrument respektive die Auswertungsmethoden ihrer Forschungsvorhaben der Kritik der Anwesenden aussetzen.

Dank der vorzüglichen Organisation durch die geschichtsdidaktische Abteilung in Greifswald war der äußere Rahmen gegeben, um lebhafte Diskussionen zu führen. Die frische Ostseeluft und die fischreichen Mahlzeiten taten das Ihrige dazu. So konnten knapp 30 Teilnehmende, dem örtlichen Nebel trotzend, manchen Aspekt des historischen Denkens und Lernens erhellen.

Das Panorama der insgesamt acht Vorträge war breit gestreut. Am Beginn stand der Versuch von VINCENZ BORGELT (Köln), das FUER-Modell durch eine postfundamentalistische Gesellschaftstheorie (Oliver Marchart) zu rahmen. Der Rahmen konstruiere sich aus dem Inneren heraus, indem mithilfe der Subjekttheorie von Jacques Lacan drei Punkte jenes Modells geschnitten werden. Am Punkt der Verunsicherung/Versicherung des Modells wurde ein gespaltenes Subjekt situiert, welches einerseits permanent nach Identifizierung strebt und andererseits sich einer metaphysischen Letztbegründung stetig entzieht, womit es auf die Unabgeschlossenheit des historischen Denkens verweist. Am Punkt der De-Konstruktion tritt nicht nur das Subjekt als ein gespaltenes auf, sondern auch das (unmögliche) Objekt (Gesellschaft), in der unzählige Geschichten flottieren, die erst aufgrund von Pluralität de-konstruiert werden können. Am Punkt der Orientierung/ Motivation wurde versucht, eine temporäre Bedeutungsfixierung zu verankern, die mittels der hegemonialen Diskursanalyse historische Bildung ermöglichen soll.

Einen wahren Siegeszug konnten vermutlich Erklärvideos historischen Inhalts während der Corona-Pandemie erleben. Darauf will CLARA ÖDÉN (Kassel) mit ihrer Untersuchung reagieren, in der sie sich am Beispiel der Französischen Revolution den Geschichtsbildern zuwendet, die durch Online-Angebote entstehen. Aufgrund erster Analysen verfestigte sich die Hypothese, dass in diesen traditionelle Narrative fröhliche Urständ feiern. Auf diesem Wege erlangen sie auf dem Feld der Geschichtsvermittlung erhebliche Deutungsmacht. Aus diesem Grunde untersucht Ödén im Rahmen ihrer Produktanalyse zunächst die Authentizitätsstrategien solcher digitaler Offerten, bevor sie sich wirkungsanalytisch mit den im Netz vorzufindenden Kommentaren auseinandersetzt. In der Diskussion wurden neben den (a) Authentifizierungsstrategien weitere Vertiefungsdimensionen, wie (b) narrative Ebene, (c) Wissenszyklen und (d) die visuelle Ebene als weitere Untersuchungsaspekte erörtert.

Seit langem wird die Integration von Globalgeschichte in den Geschichtsunterricht von verschiedenen Seiten angemahnt. In seinem Forschungsprojekt versucht DOMINIC STUDER (Aarau) genaueren Aufschluss über das historische Lernen von Schülerinnen und Schülern im Kontext von globalgeschichtlichen Unterrichtseinheiten zu erlangen. Kern des Projektes, so der Referent, stellen Interviews mit in der Schule Lernenden dar, in welchen diese selbsterlebten, videographierten Unterricht mit einer globalhistorischen Perspektive reflektieren. Im Rahmen der Präsentation wurde das Forschungsdesign ausgeführt sowie Einblick in den laufenden Prozess der qualitativen Inhaltsanalyse gegeben und Fallbeispiele aus den schon analysierten Interviews vorgestellt. Des Weiteren wurde problematisiert, ob es angesichts des Umstandes, dass der Betrachter sich letztlich nicht von seinem kulturellen Standort loslösen kann, eine globalgeschichtliche Perspektive überhaupt möglich sei.

Historisches Denken beginnt mit historischen Fragen. Deshalb war es naheliegend, dass in einem von JONAS SCHOBINGER (Aarau) vorgestellten Projekt eben dieses untersucht wird. Dabei knüpft Schobinger an die historische Fragedefinition von Jannet van Drie und Carla van Boxtel und des narrativen Kompetenzmodells von Martin Nitsche und Kristine Gollin an. Aufbauend auf die fachunspezifische Frageprozesstheorie von James T. Dillon, auf die Studie von Albert Logtenberg, der Dillons Theorie fachspezifisch gewendet und erweitert hat sowie auf die Studien von Sam Wineburg entwickelte Schobinger einen Prototypen historischer Fragenprozesse, den er auf Pilotprojektdaten anwendet. Demnach scheine der Frageprozess in die Aspekte affektive und/oder kognitive Perplexitätsmomente, Differenzierung des Perplexitätsmomentes, Ausformulieren der Frage, Reflexion der Fragestellung und Hypothese zur Fragestellung unterteilbar zu sein. Diese Unterteilung könnte die Grundlage bilden, um Typen sowie Progressionslogiken bezüglich historischer Frageentwicklungsprozesse herauszuarbeiten. In der Diskussion wurde die Fundierung durch das Nitsche-Gollin-Modell kritisiert, da eine Weiterentwicklung dieses Modells im Vergleich zu dem Prozessmodell historischen Denkens, wie es aus der Historik von Jörn Rüsen abgeleitet wurde (s. Wolfgang Hasberg/Andreas Körber), nachdrücklich in Frage gestellt wurde.

JULIA THYROFF (Aarau) nahm sich der Aufgabe an, die Kontroversität als geschichtsdidaktisches Prinzip in Augenschein zu nehmen. Ziel ihres Projekts sei es, Vorstellungen von Lehrpersonen und unterrichtliche Umsetzungen im Umgang mit kontroversen Themen zu ermitteln. Im Rahmen eines qualitativen empirischen Zuganges soll erforscht werden, was aus Sicht der Lehrpersonen überhaupt kontroverse Themen sind, bei wem und warum, und welche Umgangsweisen sie damit wählen. Eine Herausforderung dürften solche Themen sein, bei welchen sich kontroverse Darstellungen mit gegenläufigen Sichtweisen von Schülern und Schülerinnen verbinden. Die Frage des Verhältnisses von Kontroversität und Pluralität war dann auch der Schwerpunkt der an den Vortrag anschließenden Diskussion.

Bei der anschließenden Referentin, FRANZISKA PILZ (Paderborn), rückten Krisen als Unterrichtsphänomen in den Fokus der Betrachtung. Es sollte die Frage diskutiert werden, inwiefern Krisen im Geschichtsunterricht als Lernanlässe fungieren. Dazu wurden bereits einzelne Stunden im bilingualen Geschichtsunterricht videographiert. Zunächst erschien es jedoch sinnvoll, den recht disparaten Begriff der „Krise“ einer eingehenderen Analyse anhand eines Unterrichtsbeispiels zuzuführen, da dieser, je nachdem welche Bezugstheorie (bspw. soziologisch oder entwicklungspsychologisch usw.) herangezogen wird, unterschiedlich definiert wird. Dabei wurde rasch deutlich, dass Krisen im Sinne einer Unterbrechung von Unterrichtsroutinen nicht objektiv sichtbar, sondern stets abhängig von der Akteursperspektive sind. Um das Lernpotenzial von Krisenmomenten im Geschichtsunterricht untersuchen zu können, sei es daher notwendig zu fragen, inwiefern und für wen eine Unterrichtssituation als krisenhaft erscheint. In der daran anschließenden Diskussion wurde lebhaft erörtert, in welcher Art und Weise sich solche Krisen artikulieren, wenn der Geschichtsunterricht als kommunikatives Ereignis verstanden wird. Wenn, dann wären kommunikationsanalytische Zugänge ebenfalls möglich.

LARA MEHRWALD (Kassel) referierte in ihrem thesenreichen Vortrag über die Anfangsstadien ihres geplanten Dissertationsprojektes zum Mehrwert von bilingualem Geschichtsunterricht. Dabei distanzierte sie sich deutlich von einem Diskursstrang der Forschung, indem sie betonte, dass es im Geschichtsunterricht nicht darauf ankommen kann, eine bestimmte Zielsprache zu erreichen, sondern, dass es um den funktionalen Gebrauch einer Arbeitssprache gehe. Im Zuge einer noch konkreter zu konzipierenden, explorativ-empirischen Studie wurden auch das Untersuchungsdesign und die Auswertungsmethoden zur Diskussion der angeregten Zuhörerschaft unterbreitet.

Im Verbund des KLUG-Projektes stellte STEFANIE HÖLZLWIMMER (Eichstätt) zunächst ihre theoretisch angelegte und bereits abgeschlossene Master-Arbeit und ihr Modell eines zunächst fachunspezifischen Reflexionsmodells dar, um im Anschluss daran einige Thesen ihrer in Entstehung befindlichen Dissertation zu diskutieren. Ihr entworfenes Reflexionsprozessmodell orientiert sich dabei zuvörderst an Einlassungen des amerikanischen Pragmatisten John Dewey und des amerikanischen Philosophen Donald Schön. Demgemäß ließe sich der Reflexionsprozess in fünf Teilprozesse untergliedern: 0) Orientiertheit (B. Bräuer, in Anlehnung an Edmund Husserl), 1) ein Trigger, der die Routine stört, 2) eine Präzisierung, 3) eine Auseinandersetzung mit einer Reflexionsfrage (demnach komme es zu einer Wissensaktivierung und zu einem Wissensimport) und endlich erreicht der Reflexionsprozess 4) eine Antwortfindung mit anschließender Neubewertung, wobei zwischen einem hohen und einem niedrigen Reflektiertheitsgrad unterschieden werden könne. Um nun zu klären, wie reflektiert Lehrpersonen mit Fortbildungsinhalten und Feedback umgehen, wird auf Basis der theoretischen Überlegungen empirisch untersucht und reflektiert.

Im Abendvortrag sprach JOHANNES MEYER-HAMME (Paderborn) in konziser Klarheit über das Konzept des Historischen Lernens. Axiomatische Bedeutung und allgemeine Zustimmung erlangte dabei die Feststellung, dass es beim Historischen Lernen nicht nur um Wissensvermittlung gehe, wie es sehr häufig in der Geschichtskultur verstanden wird. Eine tour d'horizon durch den forschungsgeschichtlichen Diskurs zum Historischen Lernen (von Jörn Rüsens Konzept über Bodo von Borries mit der Lerntypologie, zum Umgang mit Konzepten historischen Denkens bei Hilke Günther-Arndt, bis zum Historischen Lernen bei Monika Fenn und Meik Zülsdorf-Kersting), diente dazu, bestehende Desiderata zu benennen und in Umrissen zu skizzieren. Dabei wird ein kategorial analytisches Modell entwickelt, welches sich der narrativen Kompetenz verpflichtet weiß, zugleich aber auch weitere geschichtsdidaktische Konzepte und Forschungen integriert. Historisches Lernen ziele 1) auf die Entwicklung von Kompetenzen historischen Denkens, die 2) in Auseinandersetzung mit der Geschichtskultur (samt ihrer gesellschaftlichen Konventionen und Kontroversen) entwickelt werden, wenn 3) eine Reflexion historischer Subjektbezüge stattfindet. Solchermaßen gelang es, den Diskurs um das Historische Lernen als Konzept im Kontext weiterer geschichtsdidaktischer Debatten zu verorten.

Kolloquien die der Vorstellung von Qualifikationsprojekten dienen, sind häufig auf methodologische Aspekte begrenzt, insofern es um die Tragfähigkeit projektierter Forschungsdesigns geht. Das war auch in Greifswald der Fall, mit der Einschränkung allerdings, dass auch Türen in neue Sphären geöffnet wurden: sei es durch den Vorschlag, das FUER-Modell durch einen postfundamentalistischen Ansatz zu rahmen, um es gesellschaftstheoretisch einzuordnen, oder ein für es grundlegendes Konzept wie das Historische Lernen genauer zu konturieren. In beiden Belangen konnten nur erste Schritte unternommen werden, die allerdings für die Weiterentwicklung des Theoriekonzepts und damit auch für die Fundierung der vorgestellten Forschungsprojekte förderlich sein könnten.

Konferenzübersicht:

Vincent Borgelt (Köln): Object petite a und point de capiton – Zwei Spielmacher FUER Geschichtlichkeit

Johannes Meyer-Hamme (Paderborn): Historisches Lernen – Thesen zu einem reflexionsbedürftigen Konzept

Clara Ödén (Kassel): Digitale Geschichtskultur – Erklärvideos auf YouTube als Bestandteil aktueller Geschichtskultur

Dominic Studer (Aarau): Globalgeschichtliche Perspektiven und historisches Lernen im Geschichtsunterricht

Jonas Schobinger (Aarau): Wie werden (hist.) Frageprozesse konstruiert? Erste Resultate einer systematischen Literaturrecherche im Rahmen des Dissertationsprojektes „Ausprägungen historischen Lernens und Ansätze zu deren Diagnose“

Julia Tyrhoff (Aarau): „Controversial Issues“ in Geschichtsunterricht und Politischer Bildung. Vorstellungen von Lehrpersonen und unterrichtliche Umsetzungen

Franziska Pilz (Paderborn): Krisenmomente als Lernanlässe. Eine empirische Untersuchung (un-)sichtbarer Krisenmomente am Beispiel bilingualen Geschichtsunterrichts

Lara Mehrwald (Kassel): Der Mehrwert von bilingualem Geschichtsunterricht. Nachhaltiges Lernen aus geschichtsdidaktischer Perspektive. Eine explorative empirische Studie

Stefanie Hölzlwimmer (Eichstätt-Ingolstadt): Wie reflektiert gehen Lehrpersonen mit Fortbildungsinhalten und Feedback um? Untersuchung an den adaptierenden Aufgaben der KLUG-Fortbildungsreihe

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